Donnerstag, den 22. Oktober 2009 11:17 Alter: 10 Jahr(e)

Die kurze Utopie einer friedfertigen Welt

Kategorie: Dresdener Land und Umgebung

VON: KLAUS KROEMKE

Der Herbst `89 wird mit dem Winter `89/90 gleichgesetzt – was so nicht stimmt. Es ging um den Ausbruch aus der Erstarrung, um Freiheit. die Gewalt-Freiheit einschließt. Die Botschaft war auch eine globale: ein neutrales, entmilitarisiertes, friedfertiges Europa.

Bertolt Brecht schrieb einmal, er liebe Jubiläen nicht. "Es ist schwer genug, die wirklichen Wendepunkte zu erfassen". Ich möchte ergänzen: sie zu erfassen und im Laufe der Zeit nicht aus dem Auge zu verlieren. Und ich habe das unsichere Gefühl, es ist längst passiert: wir haben das Wesentliche bereits aus dem Auge verloren und setzen den Herbst '89 mit dem Winter '89/90 gleich.

Es gibt im Wesentlichen zwei Fragen zur Wende, die sich schon im Herbst 90, nach vollzogenem Beitritt der Ostländer zur BRD, in den Vordergrund drängen - oder gedrängt wurden. Denn indem die Frager diese stellen, werden andere Fragen bereits ausgeklammert:

• "Wie haben Sie persönlich den 9. November '89 erlebt?"

• "Was müssen wir tun, um die deutsche Einheit zu vollenden"

Das ist tieftraurig, denn die zwei "Standardfragen" reduzieren den Herbst '89 auf den Untergang der DDR und die deutsche Einheit. Und das überstrahlt alles. Im Herbst 1989 ging es aber nicht um Deutschland.

"Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit," heißt es im Gründungsaufruf des NEUEN FORUM vom 10. September 1989, einem einzigen maschinegeschriebenen Blatt Papier, das sich in wenigen Tagen über das ganze Land verbreitete, in Zeiten ohne Mail, Internet und Fax wohl gemerkt - und ohne inländische Medien, da diese in der Hand des Staates und der Zensur waren. Es gab noch nicht einmal Kopiertechnik - jedenfalls so gut wie nicht. Das ist nur erklärlich mit vielen freiwilligen Helfern, mit einem breiten öffentlichen Konsens. Im fast zeitgleich erschienenen Aufruf von "Demokratie Jetzt"; hieß es: "Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß."

Und der später in der CDU aufgehende "Demokratische Aufbruch - sozial, ökologisch" rief noch im Oktober auf: "Nötig ist eine demokratische Umgestaltung...Wir wollen neu lernen, was Sozialismus für uns heißen kann."

Wer heute noch mal die Originalkdokumente vom Herbst '89 liest, der wird bemerken, daß die Klischees, die wir heute der Wendezeit offiziell anpappen, wenn überhaupt, nur einen Bruchteil der damaligen Realität widerspiegeln. Das begründet auch das Unbehagen, das mancher bei heutigen Jubelfeiern empfindet.

Um die deutsche Einheit ging es im Herbst 1989 nicht, sondern erst im Winter 89/90. Im Herbst ging es um die totkranke, abgewirtschaftete DDR, die ausblutete durch den Weggang Tausender, die hier in diesem Land keine Hoffnung mehr hatten - und es ging um den durch Wettrüsten und Umweltzerstörung bedrohten Planeten, auf dem wir leben. Vor allem Letzteres wird aus heutigen Diskursen über die Wende konsequent ausgeblendet, scheint keinerlei Botschaft mehr zu haben, aus der man etwas lernen könnte.

 

Künstler hatten es schon in der Vorwendezeit in Worte gefaßt. Karat fragte": "Tanzt unsre Welt mit sich selbst schon im Fieber?" und malte das Bild einer Welt, die in Staub und Gestein für allezeit verloren sei. Die Puhdys besangen den atomaren Weltuntergang im Tränenmeer aus 10 Milliarden Augen. Holger Biege wagte zu hoffen "Das Land und auch die Ozeane können sich nicht wehr'n - ihre Schätze soll'n späteren auch so wie uns gehör'n."

... und die deutsche Einheit bestand darin, daß auch die Friedensbewegung im Westen die Not umtrieb, daß man aus dieser Spirale des atomaren Wettrüstens nicht mehr herausfände. Nena sang von 99 Luftballons, die schon reichten um einen Weltkrieg auslösen.

1983 hatte die heute fast vergessene DDR-Schriftstellerin Christa Wolf ihre Erzählung "Kassandra" gleichzeitig in Ost und West veröffentlicht. Die griechische Seherin Kassandra, die ihre Landsleute, die Trojaner, vor dem Untergang warnte, aber nicht gehört wurde, gilt als Gleichnis für jegliche unerhörte Mahnung - damals eben als Gleichnis für den drohenden Weltuntergang durch das nukleare Wettrüsten. Auf die Frage eines Journalisten, ob Sie denn persönlich glaube, daß wir einen Weg finden werden, den nuklearen Weltkrieg abzuwenden, sagte: "Nein", und schwächte dann zumindest etwas ab: "Wahrscheinlich nicht."

Sollten das prophetische Worte sein? Die Machthaber in Ost und West, Betonköpfe allesamt, würden doch lieber die Welt untergehen lassen, als die Beweisführung aufzugeben, man habe das "überlegene System". Diese Befürchtung wurde zu meiner "Grundüberzeugung", obwohl ich damals noch SED-Mitglied war - obwohl, oder gerade. Dann, 1985, kam Gorbatschow...

Und mit ihm das Verbot der kritischen sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" in der DDR. Das war möglicherweise das erste Krümel, das aus der Berliner Mauer brach, obwohl wir das da noch nicht sehen konnten. Aber dieses Verbot bedeutete auch, daß man sich gegen die Denkunwilligen in den Führungsetagen stellen konnte, mit dem "großen Bruder" im Rücken.

Jetzt schien es wieder lohnend, sich anzustrengen und sich umzusehen nach Wegen gewaltfreier Veränderung der Verhältnisse - im Globalen wie im Lokalen. Hatte nicht Nelson Mandela in den 90er Jahren gezeigt, wie man friedlich das überlebte Apartheid-System ablösen konnte? Hatte nicht schon Mahatma Gandhi den langen Weg der Gewaltlosigkeit beschritten, als er für Indien 1947 die Unabhängigkeit erstritt? Fußte nicht auch die sozialistische Idee auf dem Gedanken des Humanismus, auf Freiheit und Gerechtigkeit? Haben uns nicht schon Aufklärer wie Lessing mit seiner Ringparabel im 18. Jahrhundert den Weg gewiesen? Oder Jesus Christus in der Bergpredigt? "Schließ ohne Zögern Frieden mit Deinem Gegner." "Wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm." "Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten?"

Aus heutiger sicht frage ich: Was war eigentlich revolutionärer? Das "Kommunistische Manifest" oder die Bergpredigt? Die revolutionäre Gewalt und Diktatur als einzig möglichen Weg zu erklären aus erstarrten Verhältnissen oder die gänzliche Abkehr von archaischen Denk- und Handlungsmustern wie Gewalt, Macht, Rache und Vergeltung?

Die Geschichte der Wende enthält die Lehre von der Entlarvung des "zukunftsweisenden" kommunistischen Modells als "vorchristlich" und die Botschaft von der Macht der Machtlosigkeit, die auf dem starken Fundament vieler geschichtlicher Vorläufer stand. Es wäre zu wünschen, den Herbst '89 in dieser Tradition zu sehen und nicht zum "Wunder der friedlichen Revolution" zu kastrieren. Ein Wunder ist etwas, das man nicht erklären kann, ein Geschenk, das einem ohne Verdienst plötzlich zufällt. Die Wende war aber kein Geschenk, sondern ein Verdienst, ein Verdienst vieler - derer, die "mit den Füßen abstimmten" ebenso, wie jener, die das Recht auf ihre eigene Stimme einforderten. Alle Aufrufe jener Zeit waren Aufrufe zum Dialog aller mit allen. Sie waren defensiv und tolerant und zugleich viel mutiger, als sie heute erscheinen mögen. Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden bildeten die Gesprächsgrundlage. Grundsätze der DDR-Verfassung, was Gewaltbereiten aller Couleur die Grundlage entzog.

Da waren zum Beispiel die Demonstranten, die trotz aller Wut begreifen mußten, daß sie selbst nicht gewalttätig werden durften. Wie wollte man aber den eigenen Zorn beherrschen? Wie wollte man ohne Autorität solche Massen im Zaum halten? Der ehemalige Synodale und spätere Innenminister Horst Rasch erklärte in einem Podiumsgespräch in Radeburg, warum damals für die Demonstration der Friedfertigkeit Kerzen gewählt wurden: "Wer in einer Hand eine Kerze hält und das Licht mit der Hand schützt, der hat keine Hand frei um einen Stein aufzuheben oder zuzuschlagen."

Auf der andern Seite waren da die Träger der Staatsgewalt - die VOLKS-Armee, die Kampfgruppen, die VOLKS-Polizei, wo die unteren Chargen den Kommandeuren vorsichtig aber wahrnehmbar zu erkennen gaben, daß sie das Volk nicht - oder wenigstens nicht mehr - angreifen würden. Und da war die Stasi, deren Spitzel ausnahmsweise mal was Gutes tun konnten: nämlich denen an den Schalthebeln der Macht zu berichten, daß das, was das VOLK einforderte, nichts anderes war, als daß die SED von ihrer All-Macht abgibt: und zwar gewaltfrei. Erstmals freie Wahlen in der sich seit 1949 "Demokratisch" nennenden Republik.

Und da war Dresdens SED-Bezirkschef Hans Modrow, der am Dresdner Bahnhof bis zum 7. Oktober noch knüppeln ließ und dann aber im Nachhinein die mutige Entscheidung von Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer billigte, eine Demonstration auf der "Prager Straße" am 8. Oktober nicht mehr gewaltsam aufzulösen und das Gespräch mit den Demonstranten zu suchen. Eine Gruppe von 20 Bürgern aus den Reihen der Demonstrierenden wurde zum Gespräch eingeladen - die "Gruppe der 20", die "den gewaltlosen Dialog" wollte und "wir wollen Veränderungen auf der Basis der sozialistischen Gesellschaft".

Da war Schabowski mit seinem Zettel bei der Pressekonferenz am Abend des 9. November, der nur gesagt hatte, daß Genehmigungen zur Ausreise kurzfristig und ohne Voraussetzungen erteilt würden. Da war der italienische Journalist, der den Passus "Genehmigungen werden erteilt" offenbar nicht verstanden hatte, wohl aber die Worte "Ausreise" und "ab sofort" und daraus die Schlagzeile von der "geöffneten Mauer" produzierte, die die westdeutschen Medien nach kurzer Verwunderung zurückübersetzten und die sich via Äther in Windeseile über die ganze DDR verbreitete.

Da war der Offizier der Stasi-Paßkonrolle an der Bornholmer Straße, der als erster dem gewaltlosen Druck der herbeiströmenden Massen nachgab und nicht schießen ließ und die anderen Grenzer, die in jener Nacht dem Beispiel folgen.

Bis zu diesem 9. November fanden überall, z.B. auch auf dem Markt in Radeburg öffentliche Demonstrationen statt. Von den Bürgern wurde der öffentliche Dialog eingefordert, freie Wahlen und die Freiheit des Einzelnen überhaupt, was sich vor allem in der Forderung nach Reisefreiheit artikulierte. Und da hinein die zu diesem Zeitpunkt völlig überraschende Botschaft: "Die Mauer ist auf!"

Auf dem Radeburger Markt sagte ein damals schon recht betagter Mann, der zwei Weltkriege, das Kaiserreich, die Weimarer Republik und zwei Diktaturen miterlebt hatte: "Und ich sage Euch, in einem Jahr gibt es die DDR nicht mehr. Deutschland wird wieder vereinigt!"

Von vielen an diesem Abend belächelt sollte er doch Recht behalten. Der Herbst '89 ging in den letzten Winter der DDR über. Auf der nächsten Montagsdemo tauchten die ersten Fahnen auf, aus denen das DDR-Wappen herausgeschnitten war. Der Glaube an eine reformierbare DDR erwies sich im Angesicht der sich nun plötzlich bietenden Alternativen als zu schwach.

Am 16. Dezember vollzog der damalige Sprecher des NEUEN FORUM Dresden, der heutige CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz diesen öffentlichen Sinneswandel ein Stück nach, hoffte aber noch, ein Stück der friedlichen Wende-Utopie retten zu können: "Wir wollen einen zügigen, nicht aber überstürzten Weg zur Deutschen Einheit. ... Das NEUE FORUM tritt für einen Austritt beider deutscher Staaten aus dem jeweiligen Militärbündnis ein. Es wünscht ein neutrales, entmilitarisiertes Deutschland..."

1990 war die DDR weg, 1991 die Sowjetunion und der Warschauer Pakt. Damit war der kalte Krieg vor der Drohkulisse des atomaren Untergangs beseitigt... und den Militärindustriekomplexen in Ost und West waren die Gegner abhanden gekommen - und die Notwendigkeit, den Abrüstungsgedanken weiter zu verfolgen. Begrenzte, konventionelle Kriege sollten nun wieder möglich sein - und ließen auch nicht auf sich warten.

Schon 1991 wurde durch den bedenkenlosen deutschen Alleingang bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens der Balkankrieg wesentlich mit befördert - der erste europäische Krieg seit 40 Jahren.

Dabei hätte gerade das deutsche Beispiel auf Jugoslawien angewandt einen friedlichen Weg in ein einiges Europa weisen können. Deutsche Soldaten sind heute statt dessen in NATO-Mission in Afghanistan und im Kosovo. 2002 setzte sich auch Arnold Vaatz im Bundestag, als hätte es die Botschaft des Herbstes ´89 nie gegeben, sogar intensiv für eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg ein. Obwohl Umfragen zufolge die Gegner solcher Einsätze in der Mehrheit sind und man heute die Möglichkeit hat, öffentlich darüber zu diskutieren, gibt es dazu keine Volksabstimmung, wird das Volk bei der Entscheidung ausgeschlossen - nicht einmal bei diesen Fragen auf Leben und Tod.

Die Bundesrepublik ist in den letzten 10 Jahren zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt geworden. An Kleinwaffen sterben jährlich eine halbe Million Menschen. In Deutschland sind zwar die russischen, aber nicht die amerikanischen Atomwaffen abgezogen worden. Bis heute nicht.

Helmut Kohl hat das kurze Fenster, das sich für eine schnelle Wiedervereinigung auftat, beherzt genutzt, vor allem ehe Briten, Franzosen, Italiener sich eine Meinung bilden konnten. Er hat den berühmten "Mantel der Geschichte" der ihn streifte, beim Zipfel gepackt. Es ist eine rein akademische Diskussion, was wäre gewesen, wenn... Wir wären vielleicht der Überrumplung durch den Westen entgangen, unter der wir heute noch leiden, aber vielleicht auch um den Preis einer längeren Instabilität, wie in den anderen Ländern des Ostens. Aber der Preis der Vereinigung hätte zwingend die deutsche militärische Neutralität sein müssen - nach dem Vorbild Österreichs, der Schweiz und Schwedens. Dies wäre eine direkte Konsequenz aus dem Herbst '89 gewesen und würde uns heute im direkten wie übertragenen Sinn viel ersparen.

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