Mittwoch, den 22. Oktober 2014 16:10 Alter: 5 Jahr(e)

Taschen-Weser – das wahrscheinlich älteste Geschäft Radeburgs – wird 175

Kategorie: Radeburg und Umgebung

VON: KROEMKE

Am 9. November 1839 wurde auf der Großenhainer Straße 7 durch Sattlermeister Ernst Friedrich Leuschner (geb.1815 – gest. 1887) eine Sattler- und Tapeziererei gegründet. Das Geschäft mit dem Leder ist damit das wahrscheinlich älteste durchgängig im Besitz einer Familie befindliche Unternehmen in Radeburg. Nächstältester Betrieb (seit 1853) ist die Bäckerei Schöne. Auch die Fleischerei Klotsche und Schusters Schmiede – heute Finn – (beide seit 1858) sind jünger. Grund für uns, bei Wesers mal wieder reinzuschauen.

Inhaberin Silva Böhme und ihr Vater, Ulrich Weser, gaben bereitwillig Auskunft zur Geschichte und Gegenwart in der Großenhainer Straße 7.

Foto vor dem Geschäft in traditioneller Manier. v. l. Ulrich Weser, Silva Böhme und Brigitte Hausmann - Foto: Eulitz
Foto vor dem Geschäft in traditioneller Manier. v. l. Ulrich Weser, Silva Böhme und Brigitte Hausmann - Foto: Eulitz

Ernst Leuschner mit Tochter Olga, 1910
Ernst Leuschner mit Tochter Olga, 1910

RAZ: Euer Urahn, Friedrich Leuschner, wurde 1815 geboren. Also vor fast genau 200 Jahren. Damals tagte der Wiener Kongress, durch den Sachsen von einer europäischen Großmacht zum Kleinstaat gemacht wurde. Von diesem Tiefpunkt aus sollte das kleine Königreich aber aufblühen und eine Wirtschaftsmacht werden. Es war eine politisch und technisch revolutionäre Zeit, die auch an Radeburg nicht spurlos vorbei ging. 1831 gab sich Sachsen eine bürgerliche Verfassung und erstmals gab es einen sächsischen Landtag. 1838 wurde in Übigau die erste kontinental-europäische Dampflok für den Fernbahnbetrieb gebaut, 1839 wurde die erste deutsche Fernbahnstrecke zwischen Dresden und Leipzig in Betrieb genommen. Und genau jenes Jahr war es, als Friedrich Leuschner, mit 24 Jahren noch ziemlich jung, dieses Geschäft eröffnete, in dem sich dasselbe auch heute noch befindet...

Ulrich Weser: Mein Urgroßvater erhielt am 9. November 1839 für sein gefertigtes Meisterstück – einen englischen Reitsattel – das Bürgerrecht und Niederlassungsrecht in Radeburg. Das war damals keineswegs eine Selbstverständlichkeit, denn nur wer das Bürgerrecht besaß war auch wahlberechtigt und berechtigt, selbständig ein Gewerbe auszuüben. Er erwarb dieses Haus, in dem wir seit nunmehr 175 Jahren den Familienbetrieb führen.

RAZ: Das Foto rechts unten zeigt seinen Sohn, Ihren Großvater Ernst Leuschner, und seine Gesellen bei der Arbeit. Je einer arbeitet an Kumt und Riemen, ein weiterer polstert einen Sessel, einer sitzt an der Nähmaschine. Auf einem weiteren Foto um die Wende zum 20. Jahrhundert steht an der Fassade „Sattler und Tapezierer“. Im Schaufenster hängen Hosenträger. Das damalige Geschäft erscheint unglaublich weit gefächert. Wie passen denn Sattler und Tapezierer zusammen? Das kann man sich heute kaum vorstellen.

Ulrich Weser: Mein Großvater Ernst Leuschner übernahm am 1. Januar1887 das Geschäft, der ebenfalls Sattlermeister war. Der an der Nähmaschine wieder ist mein Vater, der Tapezierermeister Oskar Weser. Sattler, Tapezierer, Dekorateur, das gehörte alles zu einer Innung. Es ist wirklich ein sehr interessantes, weit gefächertes, vielseitiges Berufsbild. Vater und Großvater haben tatsächlich auch noch Dekorationen gemacht und Wände tapeziert. Unter Tapezieren wurde aber früher viel mehr verstanden, auch das Verlegen von Teppichen und das Polstern von Möbeln. Tapeten gab es aus Leder und aus Leder waren auch Hosenträger. Die Kunststoffe oder das Papier kamen erst später dazu. In den Blütezeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als Gas und Elektrizität Saalbeleuchtung ermöglichten und die Nacht zum Tage gemacht werden konnte, übernahmen die Leuschners neben den schon üblichen Schaufensterdekorationen auch Aufträge für Saaldekorationen. Der Großvater führte das Geschäft durch die guten Zeiten des Aufschwungs, aber auch durch die schwere Kriegszeit. Und er hatte ein Problem: er hatte keinen männlichen Erben. Wenn man keinen männlichen Nachwuchs hatte, war es nur möglich, ein Geschäft im Familienbesitz zu halten, wenn ein Handwerksmeister in die Familie einheiratet. Dieses Glück hatten wir. Mein Vater, Oskar Weser, war Tapezierermeister und auch aus dem passenden Gewerbe. Am 1. Juli 1920 übernahm er, aus dem Krieg zurückgekehrt, das Geschäft und führte es durch das Auf und Ab der Goldenen 20er, der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er, den Aufschwung in den frühen 30ern und schließlich auch durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre. In den guten Zeiten waren die Auftragsbücher voll. Neben Polstermöbeln und Matratzen wurden auch immer noch Pferdegeschirre hergestellt, wurden immer noch selbst hergestellte Lederwaren verkauft. In den Vorkriegsjahren kamen Großaufträge hinzu, zum Beispiel Arbeiten für den Autobahnbau der Art, dass Planen, Säcke, Arbeitshandschuhe und Schürzen aus Segelleinen beauftragt wurden.

Dann kam der 2. Weltkrieg. Meine beiden Brüder, die auch das Tapeziererhandwerk erlernt hatten, wurden zur Wehrmacht eingezogen, kehrten aber aus dem Krieg nicht wieder heim. Im Mai 1945, nach dem Einmarsch der Roten Armee, ließen sich russische Offiziere ihre abgenützten, unansehnlichen Leib- und Schulterriemen, Pistolen- und Patronentaschen durch neue ersetzen. Die erforderlichen Koppelschnallen, Beschläge und sonstiges Zubehör brachten sie mit, um das Leder musste mein Vater sich kümmern. Aufgrund alter Beziehungen konnte die Lederfabrik in Freital helfen – wenn man es selbst abholte. Also machte er sich regelmäßig mit dem Fahrrad auf den Weg und kam schwer beladen zurück. Ich habe ausführlich über die Nachkriegszeit in der Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Radeburg, in der Ausgabe über die Großenhainer Straße, geschrieben.* Weil das Geschäft wieder ans Laufen kam, Aufträge für Polstermöbel und Matratzen in immer größerer Zahl eingingen, ebenso wie für Fenster- und Saaldekorationen, schmerzte meinen Vater der Verlust der beiden älteren Söhne nun doppelt. Ich selbst hatte einen kaufmännischen Beruf erlernt. Um dem Wunsch meines Vaters zu entsprechen und damit auch den Fortbestand des Familienunternehmens zu sichern, entschloss ich mich zu einer Umschulung als Tapezierer und Dekorateur. 1949 begann ich mit der Lehre und legte 1953 die Meisterprüfung ab. Da mein Vater bereits 1957 starb, kam ich schneller in die Pflicht, den Betrieb mit dem angeschlossenen Lederwarengeschäft zu übernehmen, als mir lieb war.

Silva Böhme: Und von da an stand meine Mutti, Johanna Weser, vorn im Geschäft. Vielen Radeburgern, das bekomme ich immer wieder gesagt, ist sie als freundliche und kompetente Verkäuferin in liebevoller Erinnerung, die mit Hingabe ihren Beruf ausübte. Ulrich Weser: Ab 1967 war sie, bis zu ihrem Tod 1989, sogar die Inhaberin des Lederwarengeschäftes. Die DDR schuf damals den privaten Einzelhandel ab. Den Handwerksbetrieb durfte ich weiter führen, aber nicht mehr das Ladengeschäft. So wurde meine Frau im eigenen Haus Kommissionshändlerin der HO. Weil das aber immer noch zu viel privat war, wurde ein Schuhund Lederwarengeschäft der HO auf der Meißner Straße eingerichtet. So war damals die Politik und wir mussten daraus das beste machen.

Ulrich Weser: Ab 1967 war sie, bis zu ihrem Tod 1989, sogar die Inhaberin des Lederwarengeschäftes. Die DDR schuf damals den privaten Einzelhandel ab. Den Handwerksbetrieb durfte ich weiter führen, aber nicht mehr das Ladengeschäft. So wurde meine Frau im eigenen Haus Kommissionshändlerin der HO. Weil das aber immer noch zu viel privat war, wurde ein Schuhund Lederwarengeschäft der HO auf der Meißner Straße eingerichtet. So war damals die Politik und wir mussten daraus das beste machen.

Silva Böhme: In der Mangelwirtschaft hieß das vor allem, bei der Beschaffung der Ware erfolgreich zu sein. Die nachgefragte Ware heranzubringen war schwierig, aber machbar. Während Angestellte der HO nur mit den Schultern zuckten, war es für inhabergeführte Geschäfte immer auch Ehrensache, Kundenwünsche zu erfüllen. So wurde jede durch Verwandte zugesteckte D-Mark im Intershop für guten Kaffee ausgegeben, um bei der Großhandelsgesellschaft (GHG) – so hieß der staatliche Zwischenhändler – oder direkt bei Produzenten dafür zu sorgen, dass an einen gedacht wurde. So sorgte meine Mutti bis zul e tzt daf ü r, dass die Regale bei uns immer voll waren. Der letzte große Coup war die Beschaffung von Colditz- Spor t t a s chen. Über einen privaten Großhändler konnten wir zur 700-Jahrfeier der Stadt unseren Verkaufsstand mit 100 Artikeln zusätzlicher Ware bestücken. Das war zwar Einheitsware, aber von hoher Qualität. Damals legte man auf Haltbarkeit auch großen Wert.

Ulrich Weser: Die 700-Jahrfeier brachte auch für mich noch einmal einen Großauftrag. Es war die Ausgestaltung und Dekoration des Großen Saales im „Hirsch“, der seinerzeit unter Verwaltung der Stadt stand. Dazu gehörte das Anfertigen von Gardinen und Stores für die großen Fenster. Eine besondere Herausforderung war die Beschaffung und die Bearbeitung des Materials für die großen Bühnenvorhänge, die aus brandschutztechnischen Gründen auch noch imprägniert werden mussten. Der Aufwand war riesig, aber dass die Bühnenvorhänge bist heute gehalten haben und immer noch ihr Werk tun, darauf bin ich schon ein bisschen stolz.

Silva Böhme: 1989 wollten wir eigentlich auch noch das 150. Jubiläum unseres Familienbetriebes feiern, aber die zu spät erkannte Erkrankung meiner Mutter und ihr plötzlicher Tod ließen uns davon Abstand nehmen.

RAZ: Waren Sie zu dieser Zeit schon mit im Betrieb?

Silva Böhme: Ja. 1980 bin ich im Geschäft mit eingestiegen. Die Entscheidung war damals schon nicht ganz einfach. Es war für mich ja zu sehen, wie sich die Eltern mit ihrem kleinen Geschäft abmühten. Da konnte man es mit einem Job in einem größeren Betrieb oder in einer Verwaltung deutlich ruhiger haben. Aber mich faszinierte auch, dass der Betrieb schon seit vier Generationen in Familienhand war und dass vielleicht eine Chance bestand ihn fortzuführen.

RAZ: Änderte sich 1989 daran etwas?

Silva Böhme: Der Tod meiner Mutter und der Aufbruch – das löste natürlich ganz unterschiedliche Gefühle aus. Mein Vater konnte wieder seinen eigenen Laden übernehmen, was ohne den Tod meiner Mutter nicht notwendig, aber ohne die Wende nicht gegangen wäre. So konnten wir nach vorne blicken. Aber es wollte niemand mehr DDR-Lederwaren kaufen, so gut diese waren. So mussten wir uns im Westen nach Lieferanten umsehen. Diese ließen sich darauf ein, dass wir eingekaufte Ware erst nach der Währungsunion bezahlen brauchten. So starteten wir im Frühjahr mit einem Ausverkauf der HO-Kommissionsware. Was dann noch unverkäuflich war, ging zum An- und Verkauf auf der Heinrich- Zille-Straße (heute Getränkemarkt Schröder) und so konnten wir unseren Laden im Mai/ Juni umbauen. Wir haben ein größeres Schaufenster durchgebrochen und die Innenräume neu gestaltet. So konnten wir pünktlich zur Währungsunion, am 1. Juli 1990, den Neustart wagen.

RAZ: Bedeutete diese Umgestaltung das Aus für den Handwerksbetrieb?

Ulrich Weser: Ich war ja 1990 auch schon 63, also kurz vor der Rente. Es wäre also die Frage gewesen, ob man da noch einmal investiert. Aber Polstern und Reparieren waren nicht mehr so gefragt. Vieles wurde einfach weggeschmissen, weil die Neubeschaffung billig war. Der Handwerksberuf kommt mir natürlich zugute. Wir haben zwar keine Reparaturannahme in diesem Sinne, aber als Service für unsere Kunden reparieren wir schon mal eine Schnalle am Ranzen oder einen abgerissenen Henkel an einer Tasche. 2002 habe ich das Lederwarengeschäft endgültig an meine Tochter übergeben und unterstütze sie, so gut ich das noch kann. Seit Februar letzten Jahres haben wir als Verstärkung Brigitte Hausmann als Verkäuferin eingestellt.

RAZ: Für das Lederwarengeschäft ist es aber in den letzten beiden Jahrzehnten nicht einfacher geworden. Den Großmärkten auf der grünen Wiese folgte der Internethandel. Immer mehr Läden in der Innenstadt schließen. Banken und Versicherungen drängen rein, sorgen aber nicht für einen kontinuierlichen Kundenstrom, wie das für eine Einkaufsmeile eigentlich nötig wäre...

Silva Böhme: Mir ist die große Gefahr bewusst, die diese Entwicklungen für die Innenstädte haben. Diese können eigentlich nur durch inhabergeführte Geschäfte am Leben erhalten werden.

RAZ: Trotz der widrigen Umstände - der Laden läuft und läuft und läuft. Was ist das Geheimnis?

Silva Böhme: Eigentlich sind es drei Sachen: man muss ein Einkaufserlebnis bieten. Durch Fachkompetenz und Aufmerksamkeit für den Kunden da sein, seine Wünsche und Vorstellungen verstehen und das für ihn passende anbieten. Das ist das eine. Das andere: eine Stammkundenkartei pflegen, um mit den Kunden in Kontakt zu bleiben. Kunden erweisen sich als dankbar, wenn an sie gedacht wird. Das dritte sind die regelmäßigen Messe- und Herstellerbesuche, um immer auf dem Laufenden zu sein, die Mode zu kennen, zu wissen, was die Trends sind und was angesagt ist. Immer wieder mit Überraschendem aufwarten. Das gilt auch für Accessoires, für Kleinigkeiten und Klimbim, was Kunden immer mal wieder ins Geschäft führt. Ansonsten hat man sein Geld in Ladenhüter investiert und kommt außerdem in den Ruf, provinziell zu ein.

RAZ: Wie soll die Feier des 175. Jubiläums vonstatten gehen? Der 9. November, der Gründungstag, fällt diesmal auf einen Sonntag.

Silva Böhme: Deshalb wollen wir vom 1. bis zum 8. November eine kleine Festwoche machen. Lassen Sie sich überraschen.

RAZ: Sehr gerne und weiterhin alles Gute für Sie und Ihr Geschäft.

Für RAZ im Gespräch: Klaus Kroemke

* Schriftenreihe „Zur Geschichte der Stadt Radeburg“ mehrere, einzeln erhältliche Bände (je 5 bis 7 €) zu beziehen u.a. im Heimatmuseum Radeburg

 

 


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