Radeburg · Stadt · Villa Mitscherling
Neue Lebensenergie in alter Villa
Die Villa mitfunktional-ästhetischer Tradition
Die Mitscherling Villa wurde zum Zweck der Unterbringung ihrer Praxis senkrecht geteilt. Ein sepa­rater Aufgang und ein Lift werden in die Praxisräume führen, die im Obergeschoß liegen. Auch einen Seminarraum wird es geben. Die Praxis und ein Gästezimmer werden behindertengerecht sein, da Frau Franke auch sehr gerne mit Behin­derten zusammen arbeitet.

Das im Jugendstil gehaltene alte Treppenhaus, das vielen Altrade­burgern noch als Wartezimmer der Poliklinik bekannt und mit einem wertvollen Ornamentglasfenster versehen ist, wird Bestandteil der künftigen Wohnung für Frau Franke, ihren Mann und die beiden Söhne (10 und 12 Jahre) sein.

Radeburg kann sich glücklich schät­zen, daß sich nun für die Villa endlich ein Nutzer gefunden hat. Allein zwei Drittel der 800 Schlösser und Herrenhäuser Sachsens stehen leer, verfallen oder warten auf neue Nutzungsideen. Die meisten davon werden in den nächsten 20 Jahren unwiederbringlich verloren gehen.

Mag sein, daß die Radeburger Villa nicht zu den kulturhistorisch bedeut­samsten zählt, aber vielleicht wird die Kunstgeschichte darüber einmal anders denken.

Die Villa und der Park sind eines von vielen Zeugnissen des Jugend­stils in Radeburg. Verantwortlich zeichneten in der Zeit von der Jahr­hundertwende bis zum 1. Weltkrieg vor allem die Baumeister Ferdinand Schönborn und Albert Dietz für dieses und eine Reihe weiterer Jugendstilobjekte.

Zeitgleich mit der Mitscherling Villa erbaute Henry van de Velde (1863 - 1957) die Jugendstilvilla Esche in Chemnitz. Er gehörte am Anfang des 20. Jahrhunderts zu den herausra­genden Gestalten des europäischen Kunstgeschehens. Ausgesprochen vielseitig talentiert, prägte er als Maler, Designer, Kunsttheoreti­ker und Reformer maßgeblich die Ausformung des Jugendstils in Deutschland.

Da es über Baumeister Ferdinand Schönborn kaum Informationen gibt, halten wir uns an van der Felde, um den Geist der Erbauer zu verstehen. Das Ziel der Jugendstilkünstler ist es, mit einer Einheit von funktiona­lem und künstlerisch-ästhetischem Anspruch einen neuen Lebensstil zu kreieren und damit eine Reform aller Lebensbereiche zu erreichen.

Die hier geprägte Idee des Gesamt­kunstwerkes hat Walter Gropius (1883 - 1969) in seinem Bauhaus-Konzept in Dessau konsequent weiter aufgegriffen. Gropius gilt als Stammvater der modernen Archi­tektur.

Die Radeburger Villa ist in eine Phase einzuordnen, in der nach dieser modernen Architektur noch gesucht wurde.

Im Gegensatz zu van der Velde ist Schönborns Architektur verspiel­ter, eigentlich noch „jugendstil­typischer“ durch den vielfältigen Gebrauch ornamentaler Elemente, durch Erker und spielerische Details. All das ist von den neuen Bauherren konsequent beachtet und liebevoll restauriert worden. „Unser Dank gilt ganz besonders dem Rat und der Hilfe von Dr. Ralf-Peter Pinkwart, dem Landesbeauftragten für Denk­malschutz“, sagt Frau Franke.

Der Entwurf des Alt-Baumeisters umfaßte – wie bei van de Velde - alle Bereiche des Wohnumfeldes und der Familie: von Fassade und Raum­anordnung über Wandgestaltung, Wandbespannung, Türen, Fenster, Lampen und Teppiche bis hin zu Mobiliar, Porzellan, Silber und pri­vaten Gebrauchsgegenständen. Van der Velde gleich bezog Schönborn den großzügig angelegten Garten funktionell und gestalterisch in das Gesamtkonzept des Hauses ein. Mit der Villa Mitscherling entstand auf diese Weise ein außergewöhnliches Zeugnis einer im Umbruch befind­lichen Architekturepoche.

Die Familie Franke hat mit Unter­stützung der überwiegend ortsansäs­sigen Handwerksfirmen dem dahin­dämmernden alten Gebäude neue Lebensenergie gegeben. Gefragt nach dem Grund – warum gerade hier, erklärte Frau Franke, ihr Mann Heiko sei in Penig (Sachsen) gebo­ren. Seine Eltern wohnen seit 2002 in Meißen und deshalb habe man sich in der Nähe umgesehen. Noch einmal nachgefragt, warum die Wahl gerade auf dieses Haus fiel, wo es doch offensichtlich eine so große Auswahl an alten Villen in Sachsen gibt, weiß sie eine ganze Reihe von Gründen: „Es sollte z.B. auch ein verkehrstechnisch gut angebundener Ort sein mit Flugha­fen in der Nähe, wegen der vielen Reisetätigkeit meines Mannes und wegen der Patienten von auswärts. Es sollte auch erschwinglich sein, und viele Villen in Privatbesitz, die zum Verkauf angeboten werden, sind überteuert, da man auch noch hohe Restaurierungskosten einbe­ziehen muß.“ Aber dann kommt sie doch wieder auf die Energie zurück – die Kraft, die Ausstrahlung die von diesem Gebäude und diesem Park ausgeht. „Vielleicht liegt es auch daran, daß hier schon so viel Energie hineingeflossen ist, durch die Ärzte und Schwestern, aber auch durch die Kraft der Erinnerung der Menschen aus der Umgebung, die mit diesem Ort Hilfe im Krank­heitsfall verbinden. Aber es gibt auch die Grundenergie eines Ortes, die positiv oder negativ sein kann. Dieser hier ist positiv. Es gibt viele Bücher darüber, aber das würde jetzt zu weit führen.“

Klaus Kroemke

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